Mein Film handelt von Macht und Revolution. Von Menschen, die ihre Angst ablegen und sich gegen eine Macht erheben, von der man glaubte, dass sie ewig und unbesiegbar sei. Er handelt von dem verlorenen Schatz der Revolution, von dem die Philosophin Hannah Arendt geschrieben hat. Weil es schwer ist, diesen Schatz in Worte zu fassen, verliert er sich rasch, verschwindet aus dem Gedächtnis. Um sich ihm wieder anzunähern, braucht es die nähere Betrachtung des Scheiterns der Revolution – auch davon handelt mein Film. Und dann auch von mir selbst, dem Autor, der sich irgendwo in der Geschichte dieser Zeit als Objekt der Geheimdienste mit dem Namen Hassan wiederfindet. Hassan wird observiert. Er soll selber für die Dienste angeworben werden.
In der Montage des Films hatte ich eine historische Aufnahme aus der Zeit der Revolution im Iran das Haus im Bau genannt. Warum Haus im Bau? In der Filmaufnahme ist zuerst eine Gruppe von jungen Frauen, Männern und Kindern zu sehen, die wie zu einem Gruppenbild aufgestellt sind. Dann zoomt das Bild auf, und nach und nach sind immer mehr Menschen zu sehen, vielleicht mehr als Tausend, sie sitzen und stehen eng zusammen, verteilt auf sechs Stockwerke eines Gebäudes im Rohbau, an dem noch die Fassaden fehlen. Viele heben die Arme und skandieren Parolen. Alle blicken in eine Richtung, in die Richtung der Kamera. Gegen Ende der Filmeinstellung ist ein Demonstrationszug zu sehen, der unten an dem Gebäude vorbeizieht, und die Parolen vom Rohbau her werden unten wie in einem Echo aufgenommen.
Diese Szene hatte ich zum ersten Mal in einem Montageraum im Ministerium für Kultur und islamische Führung in Teheran gesehen. Ich wollte unbedingt eine Kopie, für meinen Film. Mir kam die Szene wie die ikonografische Darstellung einer Revolution vor, die von jemandem inszeniert worden war. Einige Tage später traf ich einen der Kameramänner, der an den Aufnahmen beteiligt gewesen war. Sollte ich ihm glauben, als er sagte, die Menschen hätten sich damals spontan in dem Rohbau versammelt und verteilt, und seien nicht etwa dazu angeleitet worden? Ist es vorstellbar, dass sich eine grössere Gruppe von Menschen spontan zu einer Szene zusammenfindet, wie wenn sie den Anweisungen eines Regisseurs folgen würde?
Ich traute der Wahrheit dieser Szene nicht. Darum vielleicht gab ich ihr in der Montageliste diesen seltsamen Namen, Haus im Bau, und verbot ihr damit jede Bedeutungsstiftung. Lange Zeit wusste ich nicht, wie und wo in der Montage des Films ich diese Einstellung einsetzen sollte. Schliesslich setzte ich sie an den Anfang einer Sequenz, in der die Frage nach der Erzählweise gestellt wird in der Auseinandersetzung mit einer Revolution.
Viele Fragen, die während der Montage dieses Films in meinem Kopf aufgetaucht sind, bleiben auch jetzt noch Fragen. Warum eigentlich sind auf den Filmen und Fotografien aus der Zeit der Revolution im Iran fast immer Menschenmassen zu sehen? Und warum sehen diese Szenen fast immer genau so aus, wie man sich Bilder einer Revolution vorstellt? Und warum suchte ich in den polnischen Archiven vergeblich nach Filmaufnahmen, die unseren Vorstellungen von Bildern einer Revolution entsprechen?
Die Revolution in Polen: Ich sehe angespannte, nachdenkliche Gesichter, höre Sätze von streikenden Arbeitern: Wir haben genug der Lügen, die Parteioberen müssen mit dem Arbeiter reden, wenn sie mit uns vernünftig zusammenleben wollen…Ich sehe Männer, in Gruppen, auf dem Werftgelände von Gdansk, sie hören den Gesprächen zwischen Streikkomitee und Regierungsdelegation zu, die über Lautsprecher auf das Werftgelände übertragen werden. Niemand skandiert Parolen, auf den Strassen sind keine Protestmärsche zu sehen, keine erhobenen Fäuste, nur nachdenkliche Gesichter, und doch sind diese Filmaufnahmen die kinematografischen Zeugnisse einer historischen Revolution.
Vielleicht hängt dies mit der Art der Macht zusammen, der sich die Revolutionäre entgegenstellen. Die Parteimacht im real existierenden Sozialismus, die sich selbst auf eine vorangegangene Revolution beruft, auf die Masse als Proletariat, die Partei allein ist zuständig für den Auftritt der Massen im öffentlichen Raum. Genügt es, wenn dieses Proletariat sich selbst organisiert, in den Streik tritt und die Fabriken besetzt?
Und auf der anderen Seite der Herrscher im Iran, König der Könige, der sich über die Abstammung legitimiert, die monarchische Tradition, die Geschichte ist, und vielleicht braucht es die Massen, ihren entschiedenen Auftritt im öffentlichen Raum, um diese Tradition, diese Geschichte, diese Legitimation der Herrschaft zu zerstören?
Und welches sind die Folgen?
Kapuscinskis Worte gehen mir durch den Kopf, die er in seinem Buch “Schah-In-Schah” über die Revolution im Iran schrieb:
Die Revolte befreit uns vom eigenen Ich, vom Ich des Alltags, das uns mit einem Male klein, nebensächlich und fremd erscheint. Voll Erstaunen entdecken wir ungeheure Energien in uns, wir sind zu einem Edelmut fähig, den wir nie für möglich gehalten hätten. Aber es kommt der Moment, da die Stimmung umschlägt und alles zu Ende geht. Unversehens zerfällt unsere Gemeinschaft, jeder kehrt zurück zu seinem alten Ich, das ihm anfangs noch Unbehagen bereitet, wie ein schlecht sitzender Rock. Aber wir wissen, dass es unser eigener Rock ist und wir keinen anderen bekommen werden. Widerwillig blicken wir einander in die Augen, meiden wir jedes Gespräch. Wir brauchen einander nicht mehr.
Kapuscinski ist in dieser Passage eine schöne, dichte Beschreibung einer Atmosphäre gelungen, die die Menschen damals erfasste, auch mich erfasst hatte, zur Zeit der Revolution in Polen, und danach, kurz vor und nach Verhängung des Kriegszustands. Ja eben, in Polen. Hat Kapuscinski in seinem Buch über die Revolution im Iran eigentlich darüber geschrieben, was er in seinem eigenen Land erlebte?
Während der Recherchen zu diesem Film habe ich Einsicht in die Akten des Polnischen Geheimdienstes über meine Person beantragt. Ich fand ausführliches Material, seltsames Material. Ich fand, was einige meiner Freunde vorausgesagt hatten: Eine Welt der Fiktionen. Wie und aus welchen Gründen entscheidet der Direktor einer Abteilung des Geheimdiensts, einen jungen Journalisten (mich) während eines Monates durch zwölf Agenten in drei Schichten 24 Stunden am Tag überwachen zu lassen? Wie ist es zu erklären, dass ein Analytiker des Geheimdienstes zum Schluss kommt, ich würde für einen der Geheimdienste der NATO arbeiten? Wie kommt es, dass ein Oberst des Geheimdiensts einen ausführlichen Plan entwickelt, um mich unter Druck zu setzen und zur Zusammenarbeit mit Staatssicherheit und Geheimdienst zu gewinnen?
Abgesehen davon, dass ich mir angesichts der meiner Person zugemessenen Bedeutung lächerlich vorkomme, stellt sich die Frage nach dem Selbstlauf einer Institution, die ihre Existenz durch absurde, wenig rationale, manchmal höchst gefährliche Entscheidungen und Aktionen zu rechtfertigen versucht. Vielleicht, um sich ihrer Bedeutung selbst immer wieder versichern zu können? Oder ist er Ausdruck einer hochgradigen Hilflosigkeit, von der die staatlichen Organe angesichts einer sich anbahnenden Revolution erfasst werden?
Die Schönheit des Unbestimmten. Diesen Begriff las ich vor kurzem in einem Feuilletonartikel. Die drei Wörter liessen mich ein Gefühl wiedererkennen, das mich damals in Polen erfasst hatte. Damals, Ende der siebziger Jahre, als ich mit einem Forschungsstipendium in Warschau lebte. Es war ein Gefühl, wie wenn sich alles Vergangene, das sich in diesem Land zugetragen hatte, in ungezählten Ritzen in der Gegenwart wiederfinden würde. Und dass die damals gelebte Gegenwart nur ein provisorischer, ein prekärer und fragiler Zustand war. Es war vollkommen unvorstellbar, dass sich diese Gegenwart in irgendeiner Art von Kontinuität in eine nächste Gegenwart weiterentwickeln könnte. Etwas Grosses und Unerwartetes würde geschehen, das zu einem vollständigen Bruch mit der Gegenwart führen wird. Dieses Lebensgefühl des Unbestimmten und Unvorstellbaren hatte seltsamerweise etwas zutiefst Befreiendes, und an diese ganz besondere Schönheit des Unbestimmten erinnerte ich mich während der Arbeiten an meinem Film. Vielleicht suchte ich auch, diese Schönheit besser verstehen zu können, und das war das eigentliche Motiv – oder mindestens eines der wichtigsten - dafür, dass ich mich an die Arbeit für diesem Film machte.
Andreas Hoessli, Januar 2019